Oder: doch nicht?
Aus der Rubrik „Na da schau mal her!“
Beim Lesen eines älteren archivarischen Buchs – Johann Anton Theiners „Die katholische Kirche besonders in Schlesien in ihren Gebrechen dargestellt“ (1827) – bin ich über einen Satz gestolpert, der mich aufhorchen ließ.
Johann Anton Theiner war katholischer Geistlicher, Theologe und Historiker, der später mit der Kirche brach und sich den Deutsch-Katholiken anschloss. Sein Bruder Augustin, der zuletzt das Vatikanische Geheimarchiv leitete, hatte tiefen Zugang zu Quellen. Diese Expertise merkt man den Werken der beiden deutlich an.
In J.A. Theiners Buch bin ich auf folgenden Absatz gestoßen:
„… auch gab es schon andere Übersetzungen der Evangelien. Malafried Strabo, Benediktiner Abt auf der Insel Reichenau um das Jahr 900 berichtet, die Gothen hätten gleich anfangs ihrer Bekehrung um 400 schon die Bücher in die Alt-Deutsche Sprache übersetzt, wovon zu seiner Zeit noch Exemplare da waren.“
Und da wurde ich hellhörig:
War nicht Luther derjenige, dem wir die deutsche Bibel verdanken? Offensichtlich stimmt das so nicht – also musste ich nachforschen.
Bei der gothischen Bibel geht es erst einmal um die Bibel des Wulfila (Ulfilas), entstanden um 350/380 u.Z. Wulfila war Bischof der Westgoten und schuf für seine Bibel sogar eine eigene Schrift, die gotische Schrift.
Ob man die gotische Sprache bereits als ‚deutsch‘ bezeichnen darf, darüber lässt sich streiten – ein früher Verwandter war sie in jedem Fall.
Tatsächlich existierten vor Luther mindestens 18 weitgehende deutsche Bibelübersetzungen sowie zahlreiche Teilübersetzungen. Sie reichen von althochdeutschen Evangelientexten über mittelhochdeutsche Bibelwerke bis zu 14 gedruckten vollständigen Bibeln zwischen 1466 und 1522.
Ein Grund, warum die vielen vorlutherischen deutschen Bibeln kaum Wirkung entfalteten: Sie waren fast ausschließlich für Kleriker bestimmt. Seit dem 13. Jahrhundert war der Besitz und das Lesen der Bibel in deutscher Sprache für Laien durch mehrere Konzilsbeschlüsse stark eingeschränkt oder verboten (z. B. Konzil von Toulouse 1229).
Aber was macht dann das Werk von Luther so bedeutend und anders? Was hebt ihn ab von den vorherigen Übersetzern.
Nun erstmal die Quelle. Die vorherigen deutschen Übersetzungen basierten alle auf der Vulgata, der ersten lateinischen Fassung der Evangelien, zusammengestellt im Auftrag von Papst Damasus I. von Hieronymus ab 382. Eine außerordentliche Leistung, musste er doch aus vielen unterschiedlichen Fassungen der Evangelien, die sich teils auch noch widersprachen, auswählen. Schließlich gab es ganz unterschiedliche Texttraditionen in den verschiedenen Kirchen.
Nicht nur das er auswählen musste, welche Texte und Evangelien denn nun in die erste gesammelte Fassung aufgenommen werden sollten, er nahm selbst auch noch viele Glättungen und Anpassungen vor, siehe Zitat am Ende (1).
Was Hieronymus nicht in die definierte kirchliche Fassung übernahm, wurde später – je nach Tradition – als apokryph oder deuterokanonisch bezeichnet – eine ganze Menge, die es nicht in die Vulgata geschafft hat.
Aber warum hatte schon Hieronymus nicht einfach den Originaltext der Evangelien verwendet? Ganz einfach – weil es keinen Originaltext gab und gibt. Unser ältestes vorhandene Stück Originalmanuskript mit einem Bibeltext ist das scheckkarten-große Manuskript-Schnipsel P52, und das ist nach neuesten Schätzungen aus der Mitte des 3. Jahrhunderts. Alle anderen überlieferten Texte sind noch jünger.
Davor gibt es nichts. Entweder, weil die Überlieferungen lange mündlich weitergetragen wurden, oder die entsprechenden Manuskripte sind schlicht verloren gegangen.
Und die vielen Fassungen? Nun, keiner in der frühen Kirche wollte „Geschichtsschreibung“ im heutigen Sinne betreiben – es ging um Glauben und Theologie. Darüberhinaus mussten die wenigen vorhandenen Texte jedes Mal von Hand entweder abgeschrieben oder aus dem Gedächtnis neu verfasst werden.
Dabei gab es viele theologische Unterschiede in den Gemeinden. Gerade in der Frühzeit der Kirche. Streit um die richtige Deutung der Überlieferungen war an der Tagesordnung, was sich dann in den Texten, die teils als „Kampfschriften“ fungierten, auch niederschlug.
Was dann auch der Grund dafür war, dass Papst Damasus I. Hieronymus den Auftrag gab, eine vereinheitlichte kirchlich autorisierte Fassung der Evangelien zusammenzustellen.
Und nun Luther?
Luther selbst griff auf den griechischen Text des Erasmus (1516) für das Neue Testament sowie eine hebräische Fassung für das Alte Testament zurück.
Natürlich waren auch diese Fassungen schon Konstrukte aus verschiedenen Vorläufertexten, also lag hier schon eine Auswahl mit Anpassungen vor. Dies war Luther durchaus bewusst. Auch Luther selbst griff dann und wann in die Texte ein, und erschuf so in Teilen seine eigene theologische Fassung, die nicht immer durch die ihm vorliegende Textfassungen begründet war und eben auch seine Theologie stützen sollte (2).
Luthers eigentliche Leistung bestand nicht darin, dass er die Bibel „als erster“ übersetzte – das tat er keineswegs –, sondern darin, dass er sie aus den Ursprache-Texten neu übersetzte und dabei ein verständliches, einheitliches Deutsch schuf.
Damit wurde seine Bibel zum Ausgangspunkt der neuhochdeutschen Schriftsprache und zugleich zur ersten wirklich weit verbreiteten Volksbibel.
Luther war daher der erste, dessen Bibelübersetzung breitenwirksam unter das Volk gelangte – und das in einer Zeit, in der der Buchdruck Massenverbreitung überhaupt erst möglich machte.
Das ist die eigentliche Leistung Luthers.
Nachsatz
Durch die vielen Funde der letzten 200-300 Jahre kennen wir heute alleine 5.800 verschiedene griechische Textfassungen des Neuen Testaments, von lateinischen, koptischen, aramäischen, syrischen, armenischen usw. gar nicht zu sprechen. Die kommen noch oben drauf.
Und eine letzte spannende Frage:
Wenn die älteste germanische Bibel auf einem griechischen Text beruht, der älter ist als die Vulgata — wer steht dann eigentlich näher am Urtext? Hieronymus oder Wulfila?
(1) Aus dem Brief, den Hieronymus an Papst Damasus I. schrieb, nachdem der Kirchenlehrer die Überarbeitung der vier Evangelien des Neuen Testaments abgeschlossen hatte:
„Du zwingst mich, ein neues Werk aus einem alten zu schaffen, gleichsam als Schiedsrichter zu fungieren über Bibelexemplare, nachdem diese [seit langem] in aller Welt verbreitet sind, und, wo sie voneinander abweichen, zu entscheiden, welche mit dem authentischen griechischen Text übereinstimmen. Es ist ein Unterfangen, das ebenso viel liebevolle Hingabe verlangt, wie es gefährlich und vermessen ist; über die anderen zu urteilen und dabei selbst dem Urteil aller zu unterliegen; in die Sprache eines Greises ändernd einzugreifen und eine bereits altersgraue Welt in die Tage ihrer ersten Kindheit zurückzuversetzen.
Wird sich auch nur einer finden, sei er gelehrt oder ungelehrt, der mich nicht, sobald er diesen Band [die Überarbeitung der Evangelien] in die Hand nimmt und feststellt, dass das, was er hier liest, nicht in allem den Geschmack dessen trifft, was er einmal in sich aufgenommen hat, lauthals einen Fälscher und Religionsfrevler schilt, weil ich die Kühnheit besaß, einiges in den alten Büchern zuzufügen, abzuändern oder zu verbessern?
Zwei Überlegungen sind es indes, die mich trösten und dieses Odium auf mich nehmen lassen: zum einen, dass du, der an Rang allen anderen überlegene Bischof, mich dies zu tun heißest; zum anderen, dass, wie auch meine Verleumder bestätigen müssen, in differierenden Lesarten schwerlich die Wahrheit anzutreffen ist.
Wenn nämlich auf die lateinischen Texte Verlass sein soll, dann mögen sie bitte sagen: Welchen? Gibt es doch beinahe so viele Textformen, wie es Abschriften gibt. Soll aber die zutreffende Textform aus einem Vergleich mehrerer ermittelt werden, warum dann nicht gleich auf das griechische Original zurückgehen und danach all die Fehler verbessern, ob sie nun auf unzuverlässige Übersetzer zurückgehen, ob es sich bei ihnen um Verschlimmbesserungen wagehalsiger, aber inkompetenter Textkritiker oder aber einfach um Zusätze und Änderungen unaufmerksamer Abschreiber handelt? … Ich spreche nun vom Neuen Testament: … Matthäus, Markus, Lukas, Johannes; sie sind von uns nach dem Vergleich mit griechischen Handschriften – freilich alten! – überarbeitet worden.
Um jedoch allzu große Abweichungen von dem lateinischen Wortlaut, wie man ihn aus den Lesungen gewohnt ist, zu vermeiden, haben wir unsere Feder im Zaum gehalten und nur dort verbessert, wo sich Änderungen des Sinns zu ergeben schienen, während wir alles übrige so durchgehen ließen, wie es war.“
(Vorrede zum Neuen Testament; zit. nach A. M. Ritter, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. 1 – Alte Kirche, 1. Auflage 1977, S. 181 f.; im Original bei J. P. Migne, Patrologiae cursus completus, series Graeca (MPG) 29, Sp. 525 ff.)
(2) Römer 3,28: „… der Mensch gerecht werde allein durch den Glauben“.
Das Wort „allein“ steht in keinem griechischen Manuskript. Es war eine theologische Entscheidung.









