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  • Wann das Leben beginnt – und andere „Ewige Wahrheiten©“

    Wann das Leben beginnt – und andere „Ewige Wahrheiten©“

    oder: Wie Theologie zur Biologie wurde, warum Gott der größte Abtreiber wäre, und weshalb Mitmenschlichkeit mehr hilft als Dogmen.

    Gestern habe ich das neueste Video auf dem Kanal von Hannes Kreschel geschaut – er hat einige Leute, die am „Marsch des Lebens“ in Berlin teilgenommen haben, interviewt und Eindrücke gesammelt.

    Wann das Leben beginnt und andere „Ewige Wahrheiten©“

    Ja, ja – schon klar – das Leben beginnt schon im ersten Moment der Zeugung. Ein Verständnis der Biologie, wie sie insbesondere konservative katholische Christen vertreten.

    Sagt Rom ja auch schon immer so – da ist die Haltung der Kirche ganz klar. Und sie kann sich dabei auf ihre „Ewigen Wahrheiten©“ berufen.

    Aber ist das wirklich so? Ist das schon immer die Stimme der Kirche? Nun ja, wie so häufig in theologischen Fragen ist das mal wieder etwas kompliziert. Denn diese hier geäußerte Wahrheit vertritt die Kirche erst seit 1854. Vorher gab es dieses Problem mit der Abtreibung gar nicht.

    Bis dahin galt die Lehre des großen Kirchenlehrers Thomas von Aquin, der sich wiederum auf Aristoteles berief:
    Da wird nämlich der männliche Fötus nach etwa 40 Tagen (ca. 6 Wochen), und der weibliche nach etwa 80–90 Tagen (ca. 12–13 Wochen) „beseelt“.

    Klar, Sünde war die Abtreibung schon auch – aber eben kein Mord. Es war keine Todsünde.

    Und Achtung, jetzt wird es etwas schräg. Lange wurde in der Kirche diskutiert, wie denn ein mit der Erbsünde behafteter Mensch einen Gott gebären kann – also Maria den Jesus.

    Nun, das geht natürlich gar nicht – wenn schon göttlich muss alles göttlich sein, der ganze Prozess.

    Also wurde 1854 das Dogma der „unbefleckten Empfängnis Marias“ ausgerufen. Und nein, es geht nicht um die jungfräuliche Geburt. Das verwechseln viele.

    Das geht darum, dass die Gottesgebärerin Maria selbst ohne Erbsünde auf die Welt kam.

    Und da drängte sich natürlich gleich die nächste Frage auf: Und dann war dieser gerade frisch in Marias Leib gezeugte Gott – erstmal nur ein Stück Fleisch, völlig unbeseelt?

    Nun das geht natürlich gar … hatten wir schon.

    Ein „fleischlicher, unbeseelter Gott“ wäre kein wahrer Gott. Und genau an dieser Stelle und aus diesem Grund war plötzlich 1.854 Jahre nach Christi Geburt der Beginn des Lebens auf die Zeugung verlegt worden. Und eine neue „Ewige Wahrheit©“.

    Also mit Biologie hat das alles gar nichts zu tun.

    Aber wer treibt denn nun so alles ab?

    Na ja, in dem Video kam auch eine Ärztin zu Wort. Und da sollte man doch meinen, die kennt sich in der Biologie so richtig aus. Gelernt hat sie sicher viel. Aber wenn die Religion ins Spiel kommt, dann zählen alle gelernten Fakten nichts mehr. Nur Religion kann so das Hirn verdrehen.

    Fakt ist: ca. 50% aller befruchteten Eizellen gehen schon in den ersten 14 Tagen wieder ab – und davon merken Frauen zumeist nichts.

    Leider kommt es auch danach noch zu Abgängen, die für die Frauen sehr belastend und traumatisch sein können. Aber das ist Biologie.
    Bei der Befruchtung der Eizelle und den anschließenden Zellteilungen kommt es zu Fehlern. Gendefekte, Zellteilungsfehler, unzureichende Einnistung, hormonelle Störungen – ganz natürliche Prozesse.
    Das passiert – denn der Mensch ist eben keine Maschine.

    Aber: Wie kann das mit der Lehre, das Gott das Leben von Anfang an will, in Einklang gebracht werden, wenn Gott selbst für 50% der Abtreibungen verantwortlich ist?

    Das ist ein innerer Widerspruch:
    Entweder Gott schafft Leben, um es unmittelbar wieder zu vernichten (was seine Güte in Frage stellt), oder die kirchliche Definition von „Leben ab Empfängnis“ ist biologisch und theologisch unsinnig, weil sie einen natürlichen Selektionsmechanismus als „Mord“ bewerten müsste, den Gott selbst eingerichtet hat.

    Wenn nach kirchlicher Lehre jedes befruchtete Ei ein von Gott gewolltes Leben ist, dann müsste Gott nach denselben Maßstäben der größte „Abtreibungsakteur“ des Universums sein.
    Das zeigt: Entweder ist das Dogma biologisch unsinnig, oder theologisch widersprüchlich.
    Denn eine göttliche Schöpfung, die ihre eigenen Geschöpfe sofort wieder auslöscht, kann schwerlich als Beweis für die Heiligkeit jedes befruchteten Eis dienen.

    Das Thema Transgender kam natürlich auch zur Sprache, kann ja nicht anders sein …

    Und hier war klar: Es gibt nur Mann und Frau, alles andere ist als Krankheit zu definieren, so die meistgehörte Aussage dazu in dem Video.

    Es ist mir ein Rätsel, und es wird mir auf ewig eines sein, wie Menschen mit so wenig Wissen und Bildung so klare und eindeutige Entscheidungen herbeiführen wollen.

    Fakt ist auch hier in der Biologie: Es gibt nicht nur xx oder xy Chromosomen, sondern auch XXY, XYY, XO, mosaikische Chromosomensätze usw.

    Die menschliche Natur ist kein Schwarz/Weiß – sie ist ein bunter Regenbogen, und die Natur bringt dank der Evolution vieles hervor.

    Und wer so geboren ist, leidet an keiner Krankheit – er ist tatsächlich einfach nur anders.

    Wenn man an einen allmächtigen Schöpfer glaubt, der „nichts ohne Grund“ erschafft, dann kann man biologische Varianten oder Fehlbildungen nicht gleichzeitig als „von Gott gemacht“ und als „außerhalb seines Plans“ erklären.

    Und um das Klarzustellen: Ich stehe der Idee einer völligen „Selbstdefinition des Geschlechts“ kritisch gegenüber.
    Für mich gibt es immer eine biologische Grundlage – auch bei genetischen Besonderheiten -, die medizinisch relevant bleibt. Bei Vorsorge oder Diagnostik ist entscheidend, ob jemand eine Prostata oder Brustdrüsen hat, nicht welches Geschlecht er subjektiv empfindet.

    Ich halte auch die Pubertät für eine Phase der Suche und Unsicherheit, in der Identität, Sexualität und Selbstbild noch nicht gefestigt sind.
    Viele Jugendliche experimentieren in dieser Zeit, fühlen sich zum eigenen Geschlecht hingezogen oder identifizieren sich anders, bevor sie später ihre eigene Geschlechtlichkeit finden.
    Darum lehne ich medizinische Eingriffe oder Hormonbehandlungen während der Pubertät ab. Man sollte jungen Menschen Zeit geben, sich selbst zu entdecken, bevor man medizinisch in einen Prozess eingreift, der noch in Entwicklung ist.

    Jetzt hängt der Text so in der Luft, da braucht es noch einen Schlusssatz

    Bevor man Entscheidungen herbeiführen will, die andere betreffen (man selber kann ja handeln wie man will) sollte man sich besinnen. Insbesondere auf biologische Fakten. Sich informieren, erst einmal eine Wissensbasis schaffen. Und die kann nicht in der Theologie liegen.

    Zu oft hat die Theologie erst hinterher begründet was sie vorher mit Macht wollte. Und unbedingt sollte man mit den Betroffenen selbst sprechen, bevor man über ihre Köpfe hinweg entscheiden möchte – Mitmenschlichkeit bleibt dabei das oberste Credo – auch bei sehr konservativen Christen.

    Vielleicht ist das die eigentliche Tragik der Institution Kirche– dass sie in ihrer Angst vor Irrtum den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hat.
    Ewig ist in der Kirche nur die Behauptung, dass sie sich nie geirrt hat.