– und was das mit Erfurt zu tun hat.
Im Sommer waren meine Frau und ich auf einem Bike-Fest im Osten. In einem Museum, das über die Jahre hinweg nach der Wende privat und mit viel Liebe aufgebaut wurde, in dem auch alte DDR-Kuriosika aufbewahrt und erhalten werden.
Viele Biker und auch andere waren zu Besuch, bei Bier, Bratwürsten und Steak – bestes Wetter.
Als das berühmteste Werk dieser Bike-Schmiede vorgeführt wurde, ein selbst gebautes Panzer-Bike, meinten der Junior und der Senior eine Rede halten zu müssen und wollten eine gewisse Einleitung geben. Ihr gutes Recht.
Aber da machte sich bei meiner Frau und mir ein unwohles Gefühl breit – was passiert da gerade?
Wo sind wir hier – In Deutschland – oder in der ehemaligen DDR?
Da war plötzlich von den Russen als gute Nachbarn die Rede, mit denen man immer so gut ausgekommen sei, da war die Rede von den Politikern, die uns in den Krieg treiben, von der überhandnehmenden Bürokratie – davon, dass es früher im Osten gar nicht so schlecht war, auch wenn nicht alles gut war.
Da wurde Hallervordens Friedensappell abgespielt (Oh Didi, wo bist du denn falsch abgebogen!) und es wurden DDR-Friedenslieder gesungen – von allen gemeinsam. Es wurde allen Ernstes der propagandistische Mythos vom ‚Friedensstaat DDR‘ beschworen.
Wir fühlten uns plötzlich fremd im eigenen Land
Das war kein normales Motorradfest – es war ein Fest, das tief in einer bestimmten DDR-Nostalgie verwurzelt war.
Weiß der Senior nichts vom Volksaufstand 1953, als russische Soldaten auf die Arbeiter schossen? Weiß er nichts mehr von der Stasi, dem ständigen Bücken vor den Verantwortlichen, dem Druck von oben, den Toten an der Mauer, den gefälschten Wahlen zu denen man hingetrieben wurde?
Und warum wird gleichzeitig die heutige BRD so beschimpft? Die Politiker, das ganze System, die angeblich nicht vorhandene Demokratie? Hätte es dieses Museum, dieses Fest, diese Eigeninitiative an diesem Ort zu DDR Zeiten gegeben?
Hier wird Freiheit gelebt, die es früher nie gegeben hätte – und vielen scheint das gar nicht bewusst zu sein!
Was führen diese Menschen vor ihren Kindern für ein elendiges und trauriges Schauspiel auf?
So kann man Kindern keinen Lebensmut beibringen – wenn man die eigene Unzufriedenheit und Wirklichkeitsverleugnung zum eigentlichen Lebensinhalt macht.
Ist es das, was man den Kindern weitergeben will?
Nein – Kinder brauchen Mut, Offenheit, einen positiven Blick auf die Zukunft – das muss man Kindern mitgeben, nicht die eigene Verzagtheit.
„Auch wenn ich noch so sehr Angst davor habe, in eine Achterbahn oder ein Karussell einzusteigen – wenn mein Kind damit fahren will, mache ich es.
Ich überwinde meine Angst, damit mein Kind sie nicht spürt und nicht mit ins Leben nimmt.“
Das ist für mich Verantwortung.
Nicht die eigenen Ängste zu vererben.
Nicht den eigenen Schmerz weiterzureichen.
Sondern Mut zu zeigen – auch wenn man ihn sich leiht.
Ein paar Monate später: Erfurt. Und plötzlich verstehe ich noch mehr.
Wir waren am letzten Wochenende dort – eine Stadt, so schön, dass man sie zweimal sieht: einmal mit den Augen, einmal im Herzen. Erfurt ist kein Zufall. Es ist gebauter Wille, politische Entscheidung, Förderung, Planung, Geld, Arbeit.
Nach der Wende war hier viel kaputt. Heute ist es ein Wunder.
Fachwerk, Plätze, Dom, Krämerbrücke – alles strahlt, alles erzählt, alles zeigt, was wir gemeinsam geschafft haben.
Und dann fragt man sich:
– Wie kann es sein, dass so viele schimpfen? Auf die BRD, auf die Politik, auf „den Westen“?
– Wie kann man diesen Anblick sehen und trotzdem sagen, „früher war alles besser“?
– Wer, wenn nicht wir alle zusammen, hat diese Stadt gerettet?
– Wer hat die Mittel bereitgestellt?
– Wer hat die Restaurierungen geplant, genehmigt, bezahlt?
– Wer hat die Grundlagen für dieses neue Erfurt gelegt?
Antwort: Unsere gemeinsame Republik.
Die Politik, die Verwaltung, die Steuern von Ost und West.
Der Wille, es besser zu machen.
Wir jedenfalls waren stolz auf dieses neue Erfurt – und das auch wir (ein klitzekleines bisschen) dazu beigetragen haben, dass es wieder werden konnte.
Denn auch Erfurt ist Teil unseres gemeinsamen Deutschlands, ebenso ein Stück Heimat.
Das Jammern auf gepflasterten Marktplätzen, unter restaurierten Fachwerkhäusern, in sanierten Wohnungen, mit schnellen Netzen und sicherer Infrastruktur – das muss aufhören!
Für Menschen, die DDR-Nostalgie bewusst zur Stimmungsmache missbrauchen, ist in einer demokratischen Zukunft kein Platz.
Nachtrag
Die BRD hatte viele Jahre gebraucht, bis der Nationalsozialismus wirklich aufgearbeitet wurde, Mitte der 60 Jahre, 20 Jahre nach dem Krieg wurde damit begonnen – und es hat mindestens 20 Jahre gedauert.
Der Osten hat nicht mal das aufgearbeitet – da waren ja nur Sozialisten, die hatten sowieso nie was mit dem Nationalsozialismus zu tun. Und so wurde die Diktatur unter anderem Namen fortgeführt.
Jetzt sind es 35 Jahre nach der Wende – es wird höchste Zeit für eine breite ehrliche Aufarbeitung der DDR-Zeit – allerhöchste Zeit.
Die Wunden der Wende sind ja schon lange geleckt.
Der Harz erinnerte mich daran, wie schnell man sich rückwärts träumt.
Beides gehört zu diesem Land.
Aber entscheiden müssen wir selbst, was wir weitergeben.
Hoffnung oder Angst.
Mut oder Bitterkeit.
Ich weiß, wofür ich mich entscheide.
Erfurt vor der Wende, für alle die sich nicht mehr erinnern können, Fotos von Peter Hilgers.